Überraschenderweise in der DDR gegründet, beschäftigt sich das Institut für Religionssoziologie heute unter anderem mit der Kirche in Ostdeutschland und in Osteuropa, sowie dem Phänomen der Säkularisierung. Mit soziologischen Methoden werden religiöse Phänomene der Gegenwart untersucht und gedeutet.
Unser Team
Geschichte des Institutes für Religionssoziologie
Das Aufkommen der Religionssoziologie als Disziplin steht in großer Nähe zu den Klassikern der Soziologie, die die Soziologie der Religion im Rahmen einer Theorie der Herausbildung der modernen Gesellschaft betrieben. Diese gesellschaftstheoretische Verankerung der Religionssoziologie ist bis in die Gegenwart hinein relevant.
In der neueren Religionssoziologie wird dieser Bezug vor allem dort deutlich, wo es um religiös-politische, z. B. fundamentalistische Bewegungen geht bzw. wo der Zusammenhang von Religion und Formen kollektiver Identität zur Debatte steht. Insbesondere die Beziehungen zwischen Säkularität und Religiosität, zwischen Religion und Politik oder zwischen Religion und Gewalt erfahren gerade jüngster Zeit eine Wiederbelebung des Interesses.
Doch auch die kontroversen Diskussionen über eine „Wiederkehr des Religiösen“, der „Rückkehr der Religionen“ oder einem kontinuierlichen Traditionsverlust des Christentums bzw. gar einer Säkularisierung bleiben beständiges Thema der Theologie, Sozial- und Kulturwissenschaften.
Im Anschluss an Max Weber kann man sagen, dass für die Soziologie Religion als eine Form des Gemeinschaftshandelns in den Blick kommt, das gleichzeitig für den Einzelnen sinnhaftes Handeln ist. Es geht daher bei der soziologischen Betrachtung von Religion um:
- Formen religiöser Interpretation bzw. Weltdeutung,
- religiöse Einstellungen und Glauben,
- die Formen des Handelns und des Habitus, die mit religiösen Interpretationen verbunden sind,
- die Formen der Vergemeinschaftung und die Institutionen, die sich im religiösen Feld herausbilden,
- das oft konflikthafte Verhältnis von Religion und Organisation,
- die Entwicklung des religiösen Feldes und seiner sozialen Umwelt im Zuge des Prozesses gesellschaftlichen Wandels, der sich in Modernisierung, Individualisierung und Wertewandel ausdrückt.
Damit entfaltet sich ein breites Forschungsfeld, dass sowohl die Analyse von Prozessen auf der Mikroebene der Individuen als auch auf der Makroebene verschiedener Kulturen und Gesellschaften beinhaltet.
Dass an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig eine „Abteilung Religions- und Kirchensoziologie“ und eine entsprechend ausgewiesene Professur besteht, ist bisher einzigartig in der Bundesrepublik. Noch überraschender allerdings ist die Geschichte dieser Professur: Ihre Einrichtung reicht nämlich zurück in die ersten Jahre der DDR. 1949 wurde auf Betreiben staatlicher Stellen der religiöse Sozialist Emil Fuchs der Leipziger Theologischen Fakultät als Professor zugewiesen und erhielt auf Anweisung der Landesregierung dort ab 1950 einen Lehrstuhl für Systematische Theologie und Religionssoziologie. Diese wie auch spätere Besetzungen stehen im Kontext des von Seiten der SED betriebenen Versuchs, im Lehrkörper der Fakultät sog. (dem damaligen Sprachgebrauch nach) „fortschrittliche Kräfte“ zu verankern und damit die Mehrheitsverhältnisse in der Fakultät zu verändern. Um eine wirkliche Soziologie der Religion im wissenschaftlichen Sinne freilich ging es in dieser Zeit nicht.
Es gehört jedoch zu den Ambivalenzen dieser Epoche, dass – trotz der Nähe verschiedener Lehrstuhlinhaber zum SED-Regime – im Institut für Religionssoziologie der Theologischen Fakultät Mitte der 1980er Jahre eine theorieimmanente Rekonstruktion der Religionssoziologie Niklas Luhmanns (Detlef Pollack) als Dissertation angenommen wurde, obwohl Luhmanns Bücher damals nur mit einer Sondergenehmigung in der Deutschen Bücherei gelesen werden konnten. Nach der Wende setzte sich die Theologische Fakultät dafür ein, die Professur für Religionssoziologie wieder neu – und nun erstmals mit soziologischen Fachvertretern – zu besetzen. Von 1994 bis 1995 nahm der Soziologe und Theologe Detlef Pollack die Professur ein, von 1999 bis 2006 hatte die Soziologin und Theologin Monika Wohlrab-Sahr diese Professur inne, seit Anfang 2009 ist der Soziologe und Politikwissenschaftler Gert Pickel Inhaber dieser Professur.
Die Neuausschreibung der Professur nach der Wende verdankte sich nicht zuletzt der Einsicht, dass die religiöse Lage in Ostdeutschland zur theoretischen Reflexion und empirischen Forschung geradezu herausfordert: Schließlich ist Ostdeutschland nach wie vor eines der weltweit am stärksten entkirchlichten Gebiete. Dieser Entkirchlichung entsprechen auch auf der subjektiven Ebene in hohem Maße areligiöse, atheistische oder zumindest religiös indifferente Haltungen. An der Geschichte des Säkularisierungsprozesses in der DDR lässt sich zudem das Zusammenwirken unterschiedlicher Einflussfaktoren exemplarisch untersuchen: von staatlicher Repression, Weltanschauungskonkurrenz, langfristigen Säkularisierungs- und Entkirchlichungsprozessen im Osten Deutschlands; sowie dem sich auch in der DDR-Zeit vollziehenden kulturellen Wandel. Am Beispiel Ostdeutschlands stellt sich überdies in besonderer Weise die Frage nach der Zukunft von Religion unter der Bedingung ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung. So ist die Frage, ob es möglicherweise Schwellenwerte gibt, die ein Minimum an Religiosität in einer Gesellschaft beschreiben. Auch können Wirkungen des sozialen Traditionsverlustes auf die persönliche Religiosität untersucht werden. Dies wird künftig wohl insbesondere am Verhältnis der jüngeren Generationen zu den vorangehenden „DDR-Generationen“ und deren Weltsichten, Einstellungen und Lebensstile deutlich werden.
Ein weiterer Themenschwerpunkt ist die Analyse der religiösen Entwicklung in den Staaten Osteuropas. So finden sich hier vielfältige und in unterschiedliche Richtung reichende Entwicklungen der Religiosität. Zur übergreifenden Deutung dieser Prozesse werden bewusst komparative Methoden und Vorgehensweisen zum Einsatz gebracht, die den Blick auch auf die deutsche Situation in ein neues Licht tauchen. Über Osteuropa hinaus wird zudem der Blick auch auf außereuropäische Kulturen erweitert.
In der Forschung wird in der Abteilung ein in den Methoden pluraler, interdisziplinärer aber systematisch-empirischer Ansatz verfolgt. Dieser gewährleistet nicht nur internationale Anschlussfähigkeit, sondern eröffnet auch den Studierenden die Möglichkeit zusätzliche Qualifikationsmerkmale jenseits ihrer inhaltlichen Kenntnisse zu erlangen. Insbesondere der fachgerechte Umgang mit quantitativ-empirischen Daten stellt eine Besonderheit der Abteilung Religions- und Kirchensoziologie dar. Dabei wird allerdings Wert auf eine, den jeweiligen Fragestellungen angemessene Bearbeitung mit unterschiedlichen methodischen Instrumentarien gelegt. Für die Forschungsprojekte werden systematische Zugänge im Sinne von Multi- oder Mixed-Method-Designs angestrebt.
In der Abteilung durchgeführte Forschungsarbeiten der letzten Jahre beschäftigten sich mit dem religiösen und weltanschaulichen Wandel in der DDR und in Ostdeutschland, wobei – über das Erhebungsinstrument des Familieninterviews – die Veränderungen in unterschiedlichen Generationen in besonderer Weise in den Blick rückten, und dem Phänomen der Konversion zum Islam in Deutschland und den USA (Monika Wohlrab-Sahr). Aktuell steht die vergleichende Analyse der Entwicklung von Religiosität und Kirchlichkeit im europäischen Vergleich im Vordergrund der Forschung (siehe hierzu Forschungsprofil ). Hier wird die Tragfähigkeit der Säkularisierungsthese im Kontrast zur Individualisierungsthese und zum amerikanischen Marktmodell auf Basis einer Mehrländerumfrage untersucht. Daneben wird die zivilgesellschaftliche Einbettung von Religion als sogenanntes Sozialkapital betrachtet. Auch die Haltung der Jugend zu Religion in Deutschland und das Verhältnis zwischen Religion und Politik stehen im Interesse der in der Abteilung durchgeführten Forschungsarbeiten (Gert Pickel).
Aktuelle Forschungsprojekte
Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam
Forschungsschwerpunkte
Das Forschungsprofil der Abteilung Religions- und Kirchensoziologie ist breit gefächert. Thematische Schwerpunkte sind:
- die Länder und Kulturen vergleichende Analyse von Bestand und Prozessen der Religiosität und Säkularität,
- die Beschäftigung mit Wechselprozessen zwischen Politik (insbesondere Demokratie) und Religion,
- die Bedeutung religiösen Sozialkapitals für moderne Gesellschaften sowie
- die Bezüge zwischen Alter bzw. generationellen Prozessen und Religiositätsentwicklungen.
Eine besondere und die verschiedenen thematischen Bereiche übergreifende Frage ist die nach den religiösen Entwicklungen in Deutschland unter spezieller Berücksichtigung Ostdeutschlands.
Die Auseinandersetzung Religiosität und Säkularität umfasst sowohl die Betrachtung von weltweiten Säkularisierungsprozessen als auch Beobachtungen und Deutungen einer Rückkehr des Religiösen oder der Religionen. Dabei ist es Ziel die Bestimmungsgründe für unterschiedliche und auch pfadabhängige Entwicklungen herauszuarbeiten.
Doch nicht nur die durch den Gegensatz Säkularisierung und Rückkehr der Religionen beschriebene Prozessebene steht im Zentrum dieses Untersuchungsfeldes, auch die Begriffsbestimmung und Bestandsbeschreibung von Religiosität und Säkularität wird bearbeitet. Dabei steht bewusst nicht eine Betrachtung der Religionen, sondern die seitens der Individuen festellbaren Haltungen, Überzeugungen und Wertmuster im Zentrum des Interesses. So wurde zum Beispiel im Forschungsprojekt „Kirche und Religion im erweiterten Europa“ die Dreigeteiltheit von Säkularisierungsprozessen und deren Pfadabhängigkeit herausgearbeitet.
Den Wechselprozessen zwischen Religion und Politik wird neben generellen Betrachtungen insbesondere hinsichtlich seiner Wechselwirkungen auf der Makroebene Beachtung geschenkt. Dabei wird gefragt, inwieweit Religion zu einem Hemmfaktor von Demokratisierungsprozessen werden kann oder aber diese Demokratisierungsprozesse neue Formen des Religiösen hervorbringen. Dabei wird empirisch überprüft, inwieweit sich bestimmte religiöse Kulturen als „undemokratisch“ oder zumindest sperriger gegenüber demokratischen Entwicklungen zeigen. Als maßgeblich für diese Wirkungen wird die kulturelle Verbindung zwischen dem Lebensbereich Politik und dem Lebensbereich Religion über das Individuum angesehen.
Ein ähnliches, aber noch einmal spezielleres Erkenntnisinteresse besteht hinsichtlich der Bedeutung des „religiösen Sozialkapitals“. Hier wird auf die Bedeutung sozialer Netzwerke und daraus Bezug genommen. Dieser noch relativ wenig erforschte Bereich kann dabei über seine ursprüngliche Relevanz für die politische Kultur einer Gemeinschaft eine entscheidende Rolle für Revitalisierungschancen von Kirchen spielen. So erscheinen die religiösen Netzwerke geeignet die Verbindung zur „säkularen Außenwelt“ herzustellen und ggf. Menschen von spezifischen religiösen Vorstellungen (zum Beispiel in Europa dem Christentum) zu überzeugen.
Für den Bereich der Beziehungen zwischen Religion und Alter wird ein Forschungsprojekt vorbereitet, welches sich den unterschiedlichen und ineinander verzahnten Einflüssen von punktuellen Ereignissen (Periodeneffekte), Sozialisation (Generationeneffekte) und Alterung (Alterseffekte) widmet. In diesem Bereich spielt insbesondere die Auseinandersetzung mit jugendlicher Religiosität eine zentrale Rolle. Dabei werden Analysen über die Wechselhaftigkeit jugendlicher Religiosität, auch in Kontrast zu älteren Personengruppen durchgeführt.
Eine zentrale Frage der Abteilung ist die Entwicklung der Religiosität und Kirchlichkeit in den neuen Bundesländern nach 1989. Zu dieser Thematik liegen bereits mehrere Veröffentlichungen vor. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auch auf der Entwicklung und Differenzierung Konfessionsloser und religiös Indifferenter sowie deren Beziehung zu Religion und Kirchen. Dies umfasst Analysen zum „neuen Atheismus“ in gleicher Weise wie Beobachtungen zur Annäherung religiöser Vorstellungen in Gesamtdeutschland. Ziel ist es eine begrenzte Prognosefähigkeit für die zukünftige Entwicklung des Religiösen in Deutschland zu erreichen.
- Der regionale Schwerpunkt der empirischen Analysen der Abteilung Religions- und Kirchensoziologie ist somit Deutschland (speziell Ostdeutschland) und Osteuropa.
- Der methodische Schwerpunkt liegt auf quantitativen Analysen, wobei der Einsatz von Multi-Method-Designs für passende Forschungsarbeiten angestrebt wird.
- Ein wichtiges Ziel (und auch Besonderheit der Abteilung) ist eine starke Ausrichtung auf Gesellschafts- und Kulturvergleichende empirische Analysen.
- Dabei ist es der Abteilung wichtig auch eine Belebung der oftmals unterschätzten Kirchensoziologie anzugehen, ohne die Erkenntnisse der über diesen Bereich hinausgehenden Religionssoziologie zu vernachlässigen.
- Die impliziert eine Verknüpfung von theologischen Inhalten, historischer Entwicklung und empirisch-soziologischer Zustandserfassung.